Autonome Autos in Recht und Moral

Beitrag von Prof. Dr. oec. HSG Oliver Bendel, Fachhochschule Nordwestschweiz, Institut für Wirtschaftsinformatik, CH-5210 Windisch

Das autonome Fahren beschwingt und beflügelt die einen, als würde man damit den Boden verlassen können, und empört die anderen. Es entstehen Eutopien und Dystopien. Es werden Behauptungen aufgestellt, die entweder eine gewisse Plausibilität haben oder von der Realität weit entfernt sind. Im Folgenden werden Behauptungen diskutiert, die man vor allem aus Industrie und Politik immer wieder hört. Dabei werden rechtliche und moralische Fragen aufgeworfen.

"Die Unfallzahlen werden drastisch reduziert"

Diese Aussage ist verbreitet. Tatsächlich kann man z.B. die Zahl der Verkehrsopfer in bestimmten Gebieten senken, nämlich überall dort, wo es übersichtlich ist und wo nur wenige Einfluss- und Störfaktoren vorhanden sind. Autonome Autos auf den Autobahnen sind eine gute Idee, in den Städten sind sie eine schlechte (siehe Abb. 1).

In den Städten gibt es Fußgänger, Fahrrad- und Rollstuhlfahrer, Skater, Katzen, Hunde, Füchse, Lichtreflexe und -signale, Schattenwürfe von Häusern und Brücken, Konfettiregen, Seifenblasen, Müllsäcke – und man könnte weiter so machen, mehrere hundert bewegte und unbewegte Objekte aufzählen, die der Wagen in jeder Sekunde in ihrer Art beurteilen und in ihrem Verhalten berechnen muss. Wenn er wenige berücksichtigt, wird es viele Unfälle geben. Wenn er alle berücksichtigt, wird er stehenbleiben. Selbst wenn er ständig dazulernen könnte, sind die Situationen sehr komplex.

Auf den Autobahnen ist kaum etwas von dem vorhanden, was genannt wurde: man fährt in eine Richtung, die Kurven sind sanft, die Gefälle und Anstiege schwach. Autonomes Fahren würde die Unfallzahlen in den nächsten Jahren auf den Autobahnen senken, in den Städten erhöhen.

Natürlich kann man diese wieder einmal umbauen [4]. Man kann Sonderspuren einrichten, Straßen mit Straßen überdachen, Tunnel bohren, man kann die Menschen vertreiben. Oder man kann die Autos zwingen, nicht mehr als 20 km/h zu fahren. So macht man es mit einem Shuttle in Sitten im Kanton Wallis, das im Herbst 2016 dennoch die offene Heckklappe eines Lieferfahrzeugs touchiert hat. Solche und schwerere Unfälle lassen sich, selbst mit einer Kombination aus Kameras, Radar, Lidar und Ultraschall, auch mit hochkarätigen klassischen und genetischen Algorithmen, in Innenstädten nicht verhindern.

"Es werden keine klassischen Dilemmata vorkommen"

Das hört man vor allem von Seite der Autobauer. Nicht immer wird verstanden, wozu moralische Dilemmata dienen. Es sind Gedankenexperimente, mit denen man moralische Grundfragen stellen, -probleme ergründen, -prinzipien erkennen will. Man geht, auch in der Maschinenethik, den Dingen auf den Grund [2].

Natürlich hat sich das Trolley-Problem in dieser Form nie ereignet. Nie ist eine Straßenbahn auf fünf Personen auf einem Gleis zugefahren, während man die Möglichkeit gehabt hat, sie auf ein anderes Gleis mit einem Unbeteiligten umzulenken. Das ist aber gar nicht der Punkt. Die gefährlichen Situationen, in die das autonome Auto verwickelt sein wird, können Varianten von klassischen Dilemmata, neuartige Dilemmata oder ganz gewöhnlicher Art sein.

Weniger Dilemmata auf Autobahnen
Generell ist die Herausforderung, das Auto so zu gestalten, dass es Unfälle vermeidet. Man kann es, wie es manche Autobauer wünschen, relativ dumm halten. Dann fährt es in einer Gefahrensituation einfach geradeaus oder versucht zu bremsen. Was aber, wenn die Bremsen versagen und auf dem Zebrastreifen mehrere Kinder sind? Müsste es nicht ausweichen und die womöglich schwerwiegenden Folgen berücksichtigen? Schon rutschen wir in Dilemmata hinein. Vermutlich existieren im Stadtverkehr keine befriedigenden Ansätze, um allen Beteiligten gerecht zu werden oder nicht gegen die populäre Ansicht, dass jedes Menschenleben zählt, zu verstoßen. Sowohl das Qualifizieren, das Bewerten von Personen, als auch das Quantifizieren, das Durchzählen, bringt Probleme mit sich. Auf der Autobahn wird es so wenige kritische Situationen geben, dass man sich moralische Maschinen, die Menschen bewerten, ersparen kann [2].

"Der Verkehr wird vollkommen autonom sein"

Davon gehen manche Experten in mehrfacher Hinsicht aus. Es werde eine umfassende Infrastruktur geben, ein Verkehrsüberwachungs- und Verkehrsleitsystem, sowie eine funktionierende Car2Car Communication, und kaum noch ein Auto, das nicht als autonomes konzipiert ist. Zudem werde es kaum noch erlaubt oder möglich sein, das Fahrzeug nicht als autonomes zu betreiben, also manuell einzugreifen.

Diese Vorstellungen werden verbunden mit der Hoffnung auf enorme Chancen, etwa auf hohe Verlässlichkeit und Sicherheit [4]. Gegen sie sprechen viele Faktoren:

  • Eine lückenlose Infrastruktur sowie eine beherrschende Übermacht autonomer Autos werden sich so schnell kaum entwickeln. Es scheint unwahrscheinlich zu sein, dass die Gesetzgeber mehrerer zusammenhängender Länder eine radikale Position einnehmen, um die autonomen PKW sich grenzenlos bewegen zu lassen.
  • Nicht zuletzt kennen wir aus unseren eigenen konventionellen Fahrten unzählige Situationen, wo wir spontan eingreifen müssen, weil wir zu rollen begonnen, in die falsche Richtung gelenkt oder einfach die Meinung geändert haben. Vermutlich werden wir hybride Fahrzeuge haben.
  • Die Politik in Deutschland ist ebenfalls der Meinung, dass der Insasse aktiv werden können muss; er dürfe sich vom Verkehrsgeschehen abwenden, solle sich aber bei Bedarf wieder zuwenden.

Der Sicherheitsaspekt ist in dem skizzierten Gesamtsystem mit seinen unzähligen Objekten, diesem Teilsystem des Internets der Dinge, grundsätzlich zu beachten. Mehrmals wurde vorgeführt, dass man die Mehrzahl eingebetteter Systeme relativ einfach hacken und diese missbrauchen kann. Wenn man Autos auf diese Weise entführen, umleiten, weglenken und abbremsen kann, ist die persönliche Autonomie außer Kraft gesetzt und die körperliche Unversehrtheit gefährdet.

"Das Auto kann Verantwortung tragen"

Aus der Politik kam im Frühjahr 2016 auch der Vorschlag, Autopilot oder autonomes Auto und Fahrer rechtlich gleichzustellen. Ein Fahrer, der vor allem ein Beifahrer ist, sollte nach dem Wunsch des Bundesverkehrsministeriums nicht fahrlässig handeln, wenn er das System lenken und entscheiden lässt, außer eben, dieses fordert ihn auf, selbst aktiv zu werden. Er soll also in rechtlicher Hinsicht seine Verantwortung abgeben. Das Bundesjustizministerium bremste Dobrindt im Sommer 2016 erst einmal aus [1].

Manche sind sogar der Meinung, das Auto selbst könne Verantwortung tragen. Das kann es höchstens, um Begriffe der Ethik zu verwenden, im Sinne der Primärverantwortung, die man einfach hat, wenn man eine bestimmte Aufgabe übernimmt [3]. Eine Sekundärverantwortung kann es schwerlich übernehmen, es kann also nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Natürlich ist es möglich, seine Technik zu überarbeiten oder es aus dem Betrieb zu nehmen, aber das ist damit nicht gemeint.

Eine Tertiärverantwortung schließlich ist weitgehend ausgeschlossen. Ein Auto kann man nicht verurteilen und nicht bestrafen. Die Haftung ist allenfalls in einem gewissen Rahmen abbildbar: Man könnte autonome Fahrzeuge mit einem Budget ausstatten und sie untereinander Bagatellschäden regeln lassen. Die Versicherung des Besitzers wird auch künftig bezahlen müssen. An wen sie unter Umständen herantreten können soll, ist eine heikle Frage, und überhaupt, wer haftbar gemacht werden kann. Die einen Autobauer wollen an einer gemischten Haftung festhalten, die anderen die volle übernehmen. Wer die Verantwortung in den Unternehmen trägt, ist schwierig zu beurteilen. Der Geschäftsführer, der Manager, der Programmierer, der Verkäufer? Vermutlich jeder von ihnen, und jeder hat eine gewisse Schuld. Und der Fahrer? Der kann in moralischer Hinsicht nicht einfach die Verantwortung abgeben, und schon gar nicht an Maschinen, die über Leben und Tod von Menschen entscheiden.

Auf dem Boden bleiben

Wie es am Ende kommen wird, weiß niemand. Aber bis dahin sollten wir Lösungen diskutieren, sollten uns im Theoretischen streiten und im Praktischen ausprobieren, und zwar so, dass niemand auf der Strecke bleibt. Im Moment gibt es zu viele Höhenflüge, und mit Autos sollte man auf dem Boden bleiben.

Literatur:

[1] Baumann, Uli. Maas bremst Dobrindt aus. In: auto motor und sport, 7. Juni 2016. 
[2] Bendel, Oliver. Die Moral in der Maschine: Beiträge zu Roboter- und Maschinenethik. Heise Medien, Hannover 2016.
[3] Höffe, Otfried. Lexikon der Ethik. 7., neubearb. und erweit. Auflage. C. H. Beck, München 2008.
[4] Maurer, Markus; Gerdes, J. Christian; Lenz, Barbara et al. Autonomes Fahren: Technische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte. Springer Vieweg, Wiesbaden 2015.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2017 Januar/Februar