Bei der Deutschen Bahn gibt es noch viel Potenzial zu heben

Interview mit Prof. Dr.-Ing. Matthias Niessner, Fakultät für angewandte Naturwissenschaften und Mechatronik, Fachgruppe Bahntechnik der Hochschule München

Technik in Bayern: Herr Prof. Niessner, neben Ihrer Professur sind Sie Leiter des Hochschulzertifikats „Engineering Specialist Bahntechnik“ und Co-Gründer des „IZBTM-Innovationszentrum für Bahntechnik und Mobilität“. Können Sie die Aufgaben dieser Einrichtungen erläutern?

Matthias Niessner: In der Grundlagenlehre an der Hochschule München sind meine Schwerpunkte Technische Mechanik, Konstruktion und CAD. Für das berufsbegleitende Studium haben wir das Hochschulzertifikat für Bahntechnik ins Leben gerufen. Es läuft über 2 Semester und die Inhalte sind Antriebstechnik, Bremssysteme, Crashsysteme, Fahrdynamik und Programmierung. Mit dem Zertifikat verfolgen wir das Ziel, Quereinsteigern in der Bahntechnik den Einstieg etwas zu erleichtern oder auch Spezialisten weiterzubilden. Leider kommt dieses berufsbegleitende Zertifikat nicht jedes Jahr zusammen. Ein Grund ist sicher auch, dass es in Bayern keinen Bildungsurlaub gibt, der ein berufsbegleitendes Studium erheblich erleichtern würde.

Für das IZBTM gab es auch einen ganz interessanten Erweckungsmoment, denn wir beobachteten eines Tages eine Ausbildungsfahrt für Straßenbahnen – ein langer Triebwagen, den ein Fahrschüler steuerte, und in dem nur die anderen Schüler und keine anderen Fahrgäste mitfuhren. Realität ist auch, dass im kommerziellen Fahrbetrieb wegen Fahrzeugmangels immer wieder Straßenbahnen ausfallen, die für den Schulungsbetrieb benötigt werden. Dies konnten wir nicht glauben und so boten wir vor 5 Jahren der MVG an, ein Digitalisierungsprojekt für Streckenkunde zu machen, um den Schülern die Möglichkeit zu geben, sich die Straßenbahnführung in München am Rechner anzusehen und zu testen. Ein großer Vorteil ist, dass man hier bei kritischen Szenen einfach zurückspulen kann. In der Realität muss die ganze Runde noch einmal abgefahren werden. Die Simulation ist ein wichtiges Hilfsmittel und natürlich muss auch noch „live“ gefahren werden. Für dieses System haben wir 2018 in der Kategorie „Mitarbeiter und Professoren“ den Strascheg Award gewonnen. Dann kam leider die Corona-Pandemie und die MVG hat alle Digitalisierungsobjekte gestoppt.

TiB: Hatte dieser Stopp Auswirkungen?

Niessner: Wir haben unser „IZBTM-Innovationszentrum für Bahntechnik und Mobilität“ trotzdem gegründet, um mit Industrieunternehmen vernünftig zusammenarbeiten zu können. Die Hochschule als Behörde ist hier zu schwerfällig, wobei sie das Gründerwesen an sich sehr fördert. Mit unserem Preisgeld haben wir das IZBTM gegründet und haben heute 5 Mitarbeiter, die alle von der Hochschule kommen – sei es als Studierende oder als Wissenschaftliche Mitarbeiter. Wir haben 2 Schwerpunkte: einmal entwickeln wir mechatronische Systeme für die Eisenbahn und dann gibt es den Bereich Bildung, Digitalisierung und Beratung.

TiB: Sie haben im September 2023 auf dem Eisenbahnforum in Erfurt Ihren Ansatz zum Digitalen Zwilling in der Eisenbahnausbildung vorgestellt. Was ist darunter zu verstehen?

Niessner: Unser neuestes Produkt ist die Entwicklung kostengünstiger Digitaler Zwillinge von Fahrzeugen für die Unterstützung in der Ausbildung bei Eisenbahnunternehmen. Diese lassen sich ideal in unsere Lernmagementsoftware RailTrainer integrieren. RailTrainer ist ein moodle-basierendes Systems und dient als Betriebssystem für Ausbildungseinrichtungen und Akademien. Wir bieten also digitale Unterstützungsprogramme für wirksamere Ausbildung für Eisenbahnverkehrsunternehmen an und nutzen dazu unsere Erfahrungen in Erwachsenenbildung und Bahntechnik. Selbst bilden wir keine Triebfahrzeugführerinnen und Triebfahrzeugführer aus, das ist nicht unser Fokus.

TiB: Wie groß ist die Konvergenz der digitalen Systeme zur Wirklichkeit?

Niessner: Es gibt mehrere Möglichkeiten, digitale Systeme aufzubauen: Ich kann z.B. ein 3D-Modell der Wirklichkeit bauen. Das ist aber sehr aufwändig und dafür benötigen 2 Leute ca. 1 Jahr für ein Fahrzeug. Das machen wir nicht. Wir nutzen fotorealistische Modelle, also 360-Grad-Panoramen, die ein Fotoroboter aufnimmt. Sie können somit durch den Zug gehen und alles sieht realistisch aus, weil es Fotos sind. Aber hinter diesen Fotos liegen Funktionsmodelle und Sie können z.B. die einzelnen Schalter bewegen und es passiert etwas. Somit sind wir in der Lage, mit diesem Modell komplette Handlungsfolgen digital abzubilden und zu schulen.

TiB: Dienen diese Programme auch zur Ausbildung von Servicekräften?

Niessner: Primär haben wir angefangen mit Triebfahrzeugführern. Mittlerweile zählen auch die Instandhalter zu unseren Kunden. Hier kann man auf die verschiedenen Bereiche fokussieren. Eine Schwierigkeit ist die spezielle Nomenklatur der Eisenbahnsprache, sie ist sehr kompliziert, aber durch eine Funktionssuche kann man einzelne Bauteile leichter identifizieren. Mit diesem Programm kann man auch einzelne Prüfungen und Übungen wie z.B. das Verhalten bei Defekten wie Türstörungen oder zum Abschleppen durchführen.

TiB: Wie sieht der moderne Ausbildungsgang „Engineering Specialist Bahntechnik“ an der HSM aus und welche Berufsmöglichkeiten haben die Absolventen?

Niessner: Die Ausbildung, die wir im Bahntechnikbereich anbieten, ist bisher im Weiterbildungsbereich – also für Berufstätige, die in die Bahnbranche kommen. Im Sommersemester 2024 werden wir die Vorlesung „Schienenfahrzeugtechnik“ auch im grundständigen Bachelor-Studium „Fahrzeugtechnik und Mobilität“ als Wahlfach verankern. Auch die Fahrzeugtechniker merken gerade: Es ist nicht mehr alles Auto, es gibt noch andere Fahrzeuge. Hier hat die Eisenbahn den großen Vorteil, dass die alternativen Antriebe wie Wasserstoff und Brennstoffzellen bei der Bahn funktionieren. In diesem Bereich passiert bei der Bahn sehr viel und man kann hier auch als Berufseinsteiger mehr bewegen, als als Ingenieur bei einem Automobilhersteller. Erfahrungsgemäß funktioniert die Zusammenarbeit mit Unternehmen aus der Bahnbranche sehr gut, die Menschen sind sehr engagiert.

TiB: Welches sind aus heutiger Sicht die kritischen technischen Punkte und welche Forschungsaktivitäten in Bezug auf die Bahntechnik gibt es?

Niessner: Wenn ich mehr Menschen mit der Bahn fahren lasse, brauche ich entweder längere Züge, wo mehr Leute hineinpassen, was schwierig ist, weil die Bahnsteige endlich sind, oder ich brauche mehr Züge, was heißt, dass ich mehr Züge in kurzer Zeit auf dem fahrenden Gleis fahren lasse. Dazu brauche ich einen kürzeren Takt und damit ein System, das dies auch ermöglicht. Hier funktioniert das klassische, signalgesteuerte System mit festen Blöcken nicht. Hier gibt es die Digitalisierungsoffensive, aber auch die wird in kritischen Bereichen nicht zu einer Verdoppelung des Bahnverkehrs führen. Hier sind Steigerungen zwischen 10 bis maximal 20% möglich. Im Güterverkehr ist ab 2028 durch die Einführung der digitalautomatischen Kupplung eine Kapazitätssteigerung durch schnellere Rangierprozesse denkbar. Diese Kupplung sorgt auch dafür, dass Güterwagen mit Strom versorgt werden können, was vorher nicht möglich war. Ein Problem sind allerdings die Kosten, und dass mit dieser Einführung in der Übergangszeit die europaweite Freizügigkeit verloren geht. Ein weiteres Handicap sind die – historisch gewachsenen – Inkompatibilitäten der Schienen- und Stromsysteme. Das macht den Bahnbetrieb zusätzlich teuer und deshalb muss man möglichst effizient fahren und möglichst effizient kuppeln.

Auch im Personenverkehr könnte durch moderne Leitungssicherungstechnik die Taktfolge deutlich erhöht werden. Ich brauche die ECTS-Level, die erlauben, von einem festen, signalgesteuerten Block wegzukommen und z.B. durch Linienzugbeeinflussung kürzere Taktfolgen zulassen. Diese Systeme lassen sich gut nachrüsten und in diesem Bereich tut sich eine ganze Menge.

Was den Punkt Sicherheitsaspekt angeht, sei nur noch erwähnt, dass in punkto Netz-Infrastruktur in den letzten Jahrzehnten aus Kostengründen ca. 50% aller Weichen abgeschafft wurden. Hier beschränkt sich die Bahn in ihrer möglichen Betriebsführung, sie ist viel vulnerabler und kann nicht mehr auf Störungen reagieren. Und neben den technischen Voraussetzungen brauche ich für einen funktionierenden Betrieb auch sehr viel qualifiziertes Personal, beispielsweise Triebfahrzeugführer und Fahrdienstleiter. Die Eisenbahn ist ein regelbasiertes System, in dem alles vorgeschrieben sein müsste. Die Eisenbahn funktioniert aber nur, weil es doch nicht so ist. Z.B. gibt es bei der DB Netz Signale, die funktionieren ein halbes Jahr einfach nicht. Hier kommunizieren dann Zugführer und Fahrdienstleiter, um den Betrieb zu ermöglichen.

TiB: Kommen wir noch auf den Güterverkehr zu sprechen. Die Rentabilität der DB Cargo ist schlecht. Kann der Güterverkehr überhaupt konkurrenzfahig zum LKW sein?

Niessner: Ja das geht und alle Unternehmen, die nicht DB Cargo sind, zeigen das. Das sind z.B. Güterwagenverleiher wie die VTG, die das Kesselwagengeschäft der DB Cargo in weiten Teilen übernommen haben, oder Lokomotion mit ihren auffälligen, gestreiften Loks. Private Cargounternehmen sollen eine Umsatzrendite von ca. 2-5% haben, das ist nicht viel, aber rentabel. Wenn man die Presseberichte über die DB Cargo liest, verwundert es nicht, dass hier Personalengpässe auftreten. Das ist wirklich schade, denn Cargo ist ein hochspannender Bereich. Erst jüngst wurde auf dem Eisenbahnforum in Erfurt ein Doktorand für seine Arbeit zur Optimierung der Prozesse in Rangierbahnhöfen mithilfe von KI mit dem Karl-Vossloh-Innovationspreis ausgezeichnet. Hier gibt es großes Potenzial.

 

TiB: Worin liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Bahn in Deutschland nur geringes Ansehen genießt und was kann dagegen getan werden?

Niessner: Leider spielen in der öffentlichen Wahrnehmung die stetig abnehmende Pünktlichkeit, die Mangelverwaltung und die vielen Streckenstilllegungen der letzten Jahre eine große Rolle. Dadurch erscheint auch der Plan, bis 2035 doppelt so viele Passagiere wie heute mit der Bahn zu transportieren, eher unrealistisch. Aber das System Bahn in die Zukunft zu führen lohnt sich. Mit keinem anderen Verkehrssystem lässt sich eine umweltfreundliche Mobilität von Personen und Gütern besser realisieren.

Das Interview führten Dina Barbian und Silvia Stettmayer

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2024 JAN/FEB